In den nächsten fünf bis sieben Jahren werden wir uns alle mit epochalen Veränderungen an den Computer-Arbeitsplätzen in Kundenservice und Back Office auseinandersetzen. Wenn wir in 2025 zurückblicken, werden wir 2019 als eine Art Meilenstein der Industrialisierung menschlicher Produktivität in Erinnerung behalten. Denn dieses Jahr markiert den Wandel unserer traditionellen Vorstellung vom Menschen als „Wissensarbeiter“ hin zur optimalen Zusammenarbeit von Mensch und Maschine.
Die Schätzungen darüber, wie viel Arbeitszeit Mitarbeiter in Service, Verwaltung und Back Office damit verbringen, nach passenden Informationen und Zusammenhängen zu suchen, gehen weit auseinander. Bis zu 38 Prozent – so wird vermutet – beträgt der Anteil der Arbeitszeit, die verloren geht, weil Mitarbeiter zum jeweils bearbeiteten „Vorgang“ nach Details suchen. Diese Schätzung der Delphi Group ist umstritten. Aber selbst wenn wir nur von 20 Prozent ausgehen: In Anbetracht des Fachkräftemangels, unter dem weite Teile der Wirtschaft leiden, können wir uns einen solchen Wert nicht leisten. Zeigt er doch, dass es mit der Produktivität am PC-Arbeitsplatz im Unternehmen schlecht bestellt ist.
Das Fehlen geeigneter Fachkräfte wird schon bald
zur größten ökonomischen Herausforderung.
Bei meinen etwa 35 Vorträgen im vergangenen Jahr über KI und die zu erwartenden Umwälzungen für die Arbeit im Umfeld von Service und Back Office haben mir hunderte Führungskräfte einhellig bestätigt: Der Mangel an Fachkräften ist die größte Herausforderung in serviceorientierten Organisationen. Gesucht werden händeringend Kundenversteher und Vorgangsabwickler. Offensichtlich stehen wir mit Blick auf die kontroversen Debatten über die Auswirkungen von KI-Systemen nicht gerade vor einer Welle der Arbeitslosigkeit. Die Digitalisierung hat schlicht dazu geführt, dass uns nicht in ausreichendem Maße qualifizierte Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Die Bildungssysteme versagen, weil sie noch zu sehr darauf ausgelegt sind, Menschen aus Kohleabbau oder Produktion für andere Traditionsberufe umzuschulen. Stattdessen bedarf es einer Offensive für die Berufe und Anforderungen einer digitalen Gesellschaft. Und einem aufgeklärten Umgang mit der leidigen Diskussion darüber, dass Menschen und Maschinen Rivalen sind.
Maschinen haben Talente. Menschen auch. In der optimalen Zusammenarbeit zwischen beiden liegt die Herausforderung der kommenden Dekade. In der Produktion haben Cobots – jene Robots, die in unmittelbarer Nähe zum Menschen wirken und seine Aktivitäten unterstützen – längst bewiesen, dass ihr Einsatz 85 Prozent produktiver ist als der Einsatz von Mensch beziehungsweise Robotern alleine. Ähnlich ist es an den PC-Arbeitsplätzen in den Unternehmen. Häufig arbeiten wir auf EDV-Systemen, die in der Mitte der 1990er Jahre entwickelt worden sind. Maschinen erweitern die Fähigkeiten unserer Mitarbeiter und können dabei helfen, Medienbrüche am Arbeitsplatz zu überwinden. Das entlastet uns von wiederkehrender Prozess-Routine und schafft Raum für Kreativ-Aufgaben und für die Erledigung komplizierter Einzelfälle.
Ich befasse mich seit fast 15 Jahren mit KI und Machine Learning. Im vergangenen Jahr wurde selbst mir der Hype um KI langsam zu viel. In vielen Branchen hat das Management längst verstanden, dass Algorithmen üppige Datenmengen in kürzester Zeit analysieren können. Dass KI Muster in E-Mails und Dokumenten erkennen kann und diese Muster mit anderen, ähnlichen Text-Informationen oder Daten-Quellen in Bezug setzen und präzise deuten kann – inklusive der im Text enthaltenen Daten zu Absender und Sachverhalt. Dennoch herrscht finanzielle Zurückhaltung. Eine ganze Reihe von Pilot-Projekten zeugen zwar von Aktionismus. Aber ein klares Bekenntnis zur Mensch-Maschine-Zusammenarbeit bleibt vielerorts aus. Noch. Denn es sprechen eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass 2019 ein Jahr wird, in dem die Zurückhaltung weicht:
Der KI-Masterplan der Bundesregierung hat wachgerüttelt und eine Diskussion darüber angestoßen, ob wir in Deutschland und Europa nicht eine entscheidende Entwicklung der modernen Industrialisierung verschlafen.
Die fehlende Entschlossenheit des Managements weicht. Bei meinen Webinaren über die Automatisierung von Antragsstrecken und Dokument-Verarbeitung mittels KI geben fast 30 Prozent der Teilnehmer auf Nachfrage an, dass sie in 2019 in KI investieren wollen.
Die Angst vor dem Ende des Wirtschafts-Booms führt zu Mitnahme-Effekten. Bereits vorgesehene Budgets werden jetzt abgerufen – ehe sie möglichen Kürzungen zum Opfer fallen.
Eine konstruktive Diskussion über die Mensch-Maschine-Zusammenarbeit am Arbeitsplatz wird beginnen. Maschinen werden nicht länger als Bedrohung wahrgenommen, sondern als Produktivitäts-Schlüssel des Digitalen Wandels.
Wenn wir also beginnen, unsere Mitarbeiter mit ihren Fähigkeiten optimal durch Maschinen zu unterstützen, wird das zu einer höheren Produktivität, zu mehr Innovationskraft und zu höherer
(Mitarbeiter-)Zufriedenheit führen. Dazu müssen wir allerdings bereit sein, neugierig zu sein und mit alten Denkmustern zu brechen. Stattdessen sollten wir den Mut besitzen, neue Formen der Mensch-Maschine-Zusammenarbeit zuzulassen. Wir beginnen gerade jetzt, das Potenzial von intelligenten Maschinen am Arbeitsplatz wirklich zu erkennen.
Maschinen sind die Lösung für unseren Fachkräftemangel. Wir müssen allerdings schleunigst eine Agenda 2025 für die Schaffung qualifizierten Personals schaffen. Mitarbeiter, denen es gelingt, KI zu erklären, ihre Fähigkeiten zu erkennen und sie optimal in der Mitte zwischen Menschen und Maschine zum Einsatz zu bringen.
Die Analphabeten des 21. Jahrhunderts sind nicht jene,
die nicht lesen und schreiben können, sondern die, die nicht
lernen, verlernen und neu lernen können.
Ich bin sogar davon überzeugt, dass sich schon zu Beginn der neuen Dekade die wenigen „Talente“ unter den Fachkräften bewusst jenen Unternehmen anschließen werden, die die Kultur der maschinellen Unterstützung am Arbeitsplatz progressiv unterstützen und stetig weiterentwickeln.
Von diesen modernen Arbeitsformen, die als „fehlende Mitte“ zwischen Menschen und Maschinen bezeichnet werden, berichte ich in meinem E-Book „Die Zukunft der Mensch-Maschine-Zusammenarbeit“. Ich zeige darin Praxisanwendungen auf, mit denen bereits heute erfolgreich das Arbeitsumfeld von Menschen durch die Assistenz von intelligenten Systemen aufgewertet und vereinfacht wurde. Wer nämlich glaubt, dass Chatbots unsere Service-Mitarbeiter in den kommenden Jahren ersetzen werden, ist schlicht naiv. Nur durch die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine können die jeweiligen Stärken der Partner optimal genutzt werden. Und bis Chatbots nicht bloß Fragen beantworten können, sondern auch vollständige und stimmige Dialoge mit uns Menschen führen können, wird es noch ein paar Jährchen dauern.
Keine Kommentare